Heute ist der Start von Charly´s Almgeschichten. Die meisten Geschichten erzählen wahre Erlebnisse. Ab und zu wurden deswegen die Namen geändert um die Privatsphäre der Personen zu schützen welche darin vorkommen. Manche Geschichten sind auch frei erfunden. Ansonsten sind es Erlebnisse aus den Bergen zu allen Jahreszeiten.Hier die erste Geschichte von Anna und Lukas:
Oben auf der verschneiten Alm herrschte eine stille, weiße Welt. Die Berghütte lag tief eingesunken im Schnee, nur der Rauch aus dem Kamin verriet, dass drinnen noch Leben war.
Anna, die junge Sennerin, schob das Fenster auf und atmete die kalte, klare Luft ein. Schon seit Tagen war sie allein oben geblieben, um nach den Tieren zu sehen.
Plötzlich hörte Anna das ferne Läuten einer Glocke - nicht von ihren Tieren, sondern von einem einsamen Wanderer, der sich im Schneegestöber verirrt hatte. Sie zog rasch den Wollschal enger um den Hals, nahm die Laterne und stapfte hinaus. Die Schneeflocken tanzten um sie herum, und der Wind pfiff durch die Tannen.
Nach einer Weile entdeckte sie den Mann, erschöpft und halb eingeschneit. Mit Mühe brachte sie ihn in die Hütte. Drinnen schürte sie das Feuer, reichte ihm heißen Tee und hörte seine Geschichte: Er sei vom Tal aufgestiegen, aber vom plötzlichen Schneesturm überrascht worden.
Draußen heulte der Wind, doch in der Hütte war es warm. Der Fremde blickte Anna dankbar an, und sie spürte, dass dieser Wintertag mehr Wärme gebracht hatte, als das Feuer allein geben konnte.
Die Stille draußen wurde immer tiefer, als ob der Schnee selbst jedes Geräusch verschluckte. Nur das Knistern des Feuers erfüllte die Hütte. Der Fremde, der sich als Lukas vorgestellt hatte, sah Anna lange an - seine Augen leuchteten im Schein der Flammen.
„Ohne dich wäre ich wohl verloren gewesen", sagte er leise. Anna lächelte verlegen und stellte den Teekrug ab. „Hier oben passt jeder auf jeden auf", erwiderte sie, doch in ihrem Inneren spürte sie ein warmes Kribbeln, das nicht nur vom Feuer kam.
Lukas erzählte von seinem Leben unten im Tal, von der Hektik der Stadt, von Träumen, die er dort nie verwirklichen konnte. Anna lauschte und fühlte sich auf merkwürdige Weise verbunden mit diesem Fremden, der plötzlich so vertraut wirkte.
Als der Sturm nachließ, stand er am Fenster und blickte hinaus in die mondhelle Schneelandschaft. „Es ist wunderschön hier", flüsterte er. Dann wandte er sich zu Anna um. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ihre Hände fanden sich wie von selbst, und beide wussten: In dieser winterlichen Einsamkeit hatte sich etwas gefunden, das wärmer war als jedes Feuer.
Draußen funkelten die Sterne über den verschneiten Gipfeln, und drinnen begann eine Geschichte, die nicht mit dem Sturm enden würde.
Die Tage nach dem Schneesturm verbrachten Anna und Lukas gemeinsam auf der Hütte. Sie lachten, erzählten Geschichten und schauten hinaus in die stille, weiße Welt. Doch als der Weg ins Tal wieder frei wurde, musste Lukas Abschied nehmen.
„Ich komme zurück", versprach er, während er ihre Hand festhielt. Anna nickte, doch in ihren Augen glitzerte ein Hauch von Traurigkeit.
Der Winter zog sich lang hin, voller Arbeit und Einsamkeit. Manchmal glaubte Anna fast, sie hätte alles nur geträumt. Doch dann kam der Frühling. Die Schneedecke schmolz, die Bäche rauschten wieder, und die ersten Blumen reckten ihre Köpfe durch das Gras.
Eines Morgens, als Anna die Ziegen auf die Weide führte, hörte sie Schritte auf dem alten Almweg. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Und da war er: Lukas, mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Strahlen im Gesicht, das wärmer war als jede Sonne.
„Ich hab's dir gesagt", rief er lachend, „ich komme zurück."
Anna konnte nichts erwidern, sie lief ihm einfach entgegen. Als sie sich in die Arme schlossen, war klar:
Die Geschichte, die im Schnee begonnen hatte, sollte jetzt erst richtig anfangen - im Licht des Frühlings.
Kommentar hinzufügen
Kommentare